Tiergestützte Therapie
Ich arbeitete als Ergotherapeutin auf einer Spezialstation für schwerst Schädel-Hirn-Verletzte, d.h. mit Menschen nach Verkehrs- und sonstigen Unfällen, Gewalteinwirkung, Tumoroperationen, Schlaganfällen, Sauerstoffmangel im Gehirn usw.
In der tiergestützten Therapie setze ich einen Hund ein, weil dieser wesentlich mehr motiviert als jeder Therapeut. Ich bin jedes Mal wieder überrascht, was Patienten möglich ist, wenn es um den Hund geht.
Wahrnehmung
Der Hund wird vom Patienten zunächst nur wahrgenommen, seine Bewegungen werden verfolgt, alle Sinne sind darauf gerichtet. Mit einem unbewegten Gegenstand lässt sich diese Motivation bei Patienten, denen z.B. das Fixieren und Verfolgen mit den Augen schwer fällt, nicht erzielen.
Vertrauen
Selbst auf Patienten mit starken Berührungsängsten, die nicht gerne anfassen oder berührt werden, übt der „lebende“ Hund eine starke Streichelmotivation aus. Das angstfreie Agieren mit dem Hund wird als Vertrauensverhältnis erlebt, die Bereitschaft, sich auf weitere Berührungen einzulassen, steigt.
Nach der Kontaktaufnahme entsteht unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung automatisch bei den meisten Patienten das Bedürfnis, mit dem Hund zu spielen. Im Unterschied zu jedem Therapiematerial aber ist der Hund aktiv und verlangt eine Reaktion.
Angst überwinden
Die Tiere helfen nicht nur, die Angst der Patienten vor ihrer Krankheit, ihren Defiziten und der Behandlung zu lindern, es können auch therapeutische Übungen im Spiel mit dem Hund durchgeführt werden; die Patienten merken oftmals nicht einmal, dass sie trainieren. Gehversuche sind z.B. viel leichter in Begleitung eines Hundes durchzuführen, der Hund muss eben nunmal Gassi gehen.
Motivation
Das Spielen mit dem Hund fordert somit ein hohes Maß an Motivation und Kooperationsbereitschaft. Zusätzlich werden dabei die verschiedensten Fähigkeiten und Fertigkeiten trainiert. Einzelne Sinnesbereiche werden gezielt gefördert, das Selbstwertgefühl gesteigert und die Konzentrationsfähigkeit in der Beschäftigung mit dem Hund wird über einen oft erstaunlich langen Zeitraum aufrecht erhalten.
Motorik
Patienten, die keine Hand- oder Armübungen machen wollen, werfen dem Hund einen Ball zu oder kämmen das Fell und erledigen dadurch notwendige Greif- und Bewegungsübungen. Sogar bei schwerst mehrfach betroffenen Patienten lassen sich beim Berühren des Hundefells feinste Bewegungsansätze erkennen.
Kollege Hund
Der Hund ist als „therapeutisches Medium“ besonders geeignet, da Hunde ähnliche soziale Strukturen und Bedürfnisse wie wir Menschen haben. Sie sind einfühlsam, können durch Mimik und Körpersprache kommunizieren, genießen gemeinsame Aktivitäten und fordern zur Kontaktaufnahme auf. Der Hund freut sich ohne Einschränkungen über den Kontakt, er ist geduldig, sucht menschliche Nähe, geht auf den Patienten zu und reagiert positiv auf seine Ansprache.
Ein Beispiel von vielen
Nach einer Gehirnblutung leidet eine Patientin u. a. an einer Antriebsstörung. Alles, jede Bewegung, jede Reaktion erfolgen extrem verlangsamt - wenn überhaupt. Von der Aufforderung bis zur Bewegung können durchaus einige Minuten vergehen, von sich aus macht sie gar nichts. Außerdem spricht sie nicht mehr, obwohl sie funktionell dazu in der Lage wäre.
Nachdem sie den Schäferhund/Collie-Mix Robby kennen gelernt und in mehreren Einheiten zugesehen hat, wie ich mit ihm und er mit mir agiert, habe ich ihr den Napf mit den Leckerchen (die er bisher immer von mir bekommen hat) einfach auf ihren Schoß gestellt und gewartet.
Die Therapie
Robby saß neben ihr und himmelte sie bzw. die Leckerchen an und plötzlich hob sie ganz langsam die Hand, nahm ein Leckerchen aus dem Napf und hielt es Robby hin. Zwar immer noch im Zeitlupentempo, aber es war eine spontane eigeninitiierte Reaktion.
Das ganze wiederholte sich über mehrere Einheiten, dann hat sie auch den Ball in die Hand genommen und auf den Boden fallen lassen. Werfen konnte man das natürlich nicht nennen, aber es war eine eigenständige Aktivität.
Erfolgserlebnis
Als sie irgendwann Robby wieder mal ein Leckerchen reichte, leckte der ihr plötzlich einmal quer übers Gesicht. Ich sagte zu ihr: „Tut mir leid, da hab ich wohl nicht aufgepasst“ - und sie antwortete leise, aber gut verständlich: „Das macht doch nichts!“
Es waren während ihres ca. 4-monatigen Aufenthaltes übrigens die einzigen Worte, die sie sprach...